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Einleitung
Titel
„... by George, here they come, a tilting! - five hundred mailed and belted knights on bicycles! The grandest sight that ever was seen. Lord, how the plumes streamed, how the sun flamed and flashed from the endless procession of webby wheels!“
(Mark Twain)

500 Ritter in voller Eisenrüstung im Sturmangriff auf Hochrädern. Heutigen Lesern fällt es sicher schwer, diese Szene aus Mark Twains A Connecticut Yankee at King Arthur´s Court (1)als utopisches Bild ernst zu nehmen, oder gar mit der Zerstörungskraft moderner Kriegstechnologien in Zusammenhang zu bringen. Schon die heitere Ironie, mit der die Szene entwickelt wird, jene Ironie, für die ihr Autor bis heute berühmt ist, scheint zunächst jeden Gedanken an einen ernsten Hintergrund zu verbieten. Doch geschieht es im selben Roman, dass Twain - übrigens einer der ersten, wenn nicht der erste prominente Fahrradfahrer Amerikas - ein ganzes Ritterheer von 25.000 Mann den modernen Kriegstod durch Sprengminen, elektrifizierte Stacheldrähte und Maschinengewehrfeuer durch die Hände eben jener Männer sterben lässt, die zuvor auch den Sturmtrupp unter Sir Lanzelot mit Hochrädern ausgestattet hatten und die später ganz England mit einem geheimen Telegrafen- und Telefonnetz verkabelten.

Nicht zufällig kommt der Yankee, den es durch eine mysteriöse Zeitreise in das sagenumwobene englische Frühmittelalter verschlägt, aus Hartfort/Connecticut, jener zu Twains Zeiten wichtigsten Technologieschmiede der Vereinigten Staaten. Hier lag mit der Patent Fire Arms Manufacturing Company von Samuel Colt nicht nur das Epizentrum der amerikanischen Waffenproduktion. Hier hatten auch andere Zweige der feinmechanischen Industrie ihren wichtigsten Standort: Hersteller von Nähmaschinen, Schreibmaschinen, Fahrrädern und Autos nämlich.

Seit seiner Renaissance als alternatives Individualverkehrsmittel in den 1970er Jahren krankt das Fahrrad vor allem an einem: an seinem Image als im besten Falle harmloses Kinder- und Studentenfahrzeug, im schlechtesten Falle Bekehrungsinstrument moralinsaurer Weltverbesserer. Bis heute gilt es entweder als spinnertes Nischensportgerät oder als die vernünftige - und das heisst immer auch: irgendwie defizitäre - Alternative zum unvernünftigen Autoverkehr. Mehr Ökologie zum Preis von: weniger Geschwindigkeit, weniger Komfort, weniger Sicherheit, weniger Spaß. Daran konnten auch BMX-Räder, Mountainbikes und Cruiser nichts Substantielles ändern. Das vorliegende Buch möchte zweierlei leisten: Zum einen aufzeigen, wie das Fahrrad technik- und mediengeschichtlich unlösbar mit dem Automobil verbunden ist (bzw. umgekehrt das Automobil mit dem Fahrrad). Zum anderen, den Bereich derjenigen Erfahrung ausloten, die eben nur mit dem Fahrrad zu machen ist - und nicht mit irgendeinem motorisierten Verkehrsmittel, aber auch nicht zu Fuß. Es kann nicht immer und immer wieder nur darum gehen, von Radfahrerseite aus zu „beweisen“, wie „armselig“ das Autofahren sei (und dabei von keinem Autofahrer ernst genommen zu werden). Denn das Fahrrad ist viel enger mit den motorisierten Individualverkehrsmitteln und der gesamten Entwicklung individuell verfügbarer Technologien der Moderne verbunden, als das für gewöhnlich wahrgenommen wird.

„Das Fahrrad mobilisierte die Wünsche für das Auto“, schreibt Wolfgang Sachs in seiner Geschichte der „Liebe zum Automobil“ (2). Simon Sparwasser formulierte nach zweieinhalb Monaten Erkenntnisfahrradtour das Programm für seine Forschung folgendermaßen:

Mein Fahrradprojekt soll Bestandteil der großen zu leistenden Arbeit über das Erwachen aus dem Zeitalter des Automobils werden.
Die vektorielle Ordnung des Raumes durch Straßen, seine Homogenisierung durch die Straßenverkehrsordnungen, die »Gefahren und Risiken« des Verkehrs, »Freiheit und Individualismus« der/durch Fortbewegung, sind das »von jeher Gewesene« unserer Epoche, an das es sich individuell anzupassen gilt. Das Fahrrad, Fortbewegungs- und Leistungsoptimierungsmaschine: Produkt und Ausdruck des technischen Dispositivs und zugleich Schlafwandler: Medium »romantischer« Träume von Muße, Reise, Landschaftsschau - einer »ganz anderen« als der entfremdeten, maschinisierten und linearisierten Fortbewegung - ist Grenzgänger (Schwellentreter) in der Epoche des Autoverkehrs.
(3)

Statt immer wieder das unerotische - und zudem falsche - Bild von der moralischen Überlegenheit zu projizieren, versucht diese Arbeit, auch die kriegerischen Aspekte des Fahrrads zu beleuchten, seine zahlreichen Verstrickungen in die brutaleren Aspekte der Technikgeschichte. Dass das Fahrrad immer schon Teil seiner - also unserer - Zeit war, und nicht irgend eine edlere Alternative, als die es so gerne dargestellt wird, macht es vielleicht irdischer, aber auch begehrenswerter. Um in dieses Entharmlosungsprogramm einzusteigen, muss man allerdings bereit sein, vom hohen Stahlross herunter- und gelegentlich sogar in die Niederungen von Golf GTI und Mantafahrern herabzusteigen.

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich zum einen auf die Teile, welche die Techni-ken der Erzählung - der Fahrradtour, der gesellschaftlichen Wirkungen des Fahrrads - untersuchen: das Fahrrad als Modernisierungsinstrument, als Mittel, um den verlorengegangenen Bezug zur Natur wiederherzustellen, als Wegberei-ter einer alternativen Moderne. Zum anderen zeigt sie die technologie- und wahrnehmungsgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen das Fahrrad sich entwickelte und durchsetzte. Im letzten Kapitel versuche ich eine erkenntnistheore-tische Reprise des zuvor kulturwissenschaftlich Erarbeiteten und zugleich eine explizite Weiterführung der Sparwasser-Fragestellungen, indem ich Texte aus dem bike´n phile-Projekt mit aktuell geschriebenen montiere.

Die Arbeit beschränkt sich bewusst im wesentlichen auf den Zeitraum um 1900, da in diesem die Hochphase des Fahrrads als Übergangsmedium liegt, aus einer ersten, kollektiven, Phase der Industrialisierung der Umwelt und des Verkehrs in die zweite, individualtechnologische, welche bis heute andauert. Alle relevanten Positionen sind in dieser Zeit formuliert wor-den. Für eine sozialhistorische Untersuchung mag der Zeitraum nach dem ersten Weltkrieg bis zum zweiten und noch darüber hinaus interessant sein, weil sich die Durchsetzung des Fahrrads als Massenverkehrsmittel dann noch weiter fortsetzt und zu sei-ner größten zahlenmäßigen Ausbreitung führt. Für eine diskursanalytische und ideenge-schichtliche Arbeit dagegen gibt es da nichts mehr zu holen. Längst haben Automobil und Luftfahrt das Fahrrad als Leitmedium für Träume individueller Beweglichkeit abgelöst.

1) Twain, Mark 1889, S.365. Auf deutsch in zahlreichen Ausgaben trotz seines düsteren Endes als Kinderbuch erschienen. Vgl. für die Interpretation als (anti-)utopischen Roman im Kontext anderer zeitgenössischer Romane, in denen Zeitreisen eine tragende Rolle spielen: Kaplan, Justin, Mark Twain and his World, London 1974.
2) Sachs 1984, S.127. Weiter heisst es dort: „Das Stahlroß brach für die breiten Massen die gewohnten Grenzen der Raumerfahrung auf und setzte Wünsche nach erweiterter Unabhängigkeit in Bewegung. Mobilität im Nahbereich wurde zur alltäglichen Münze. Aus diesem Reservoir populärer Erfahrungen wuchs den Motorfahrzeugen ein gutes Stück ihrer Anziehungskraft zu; versprachen sie doch jene Beweglichkeit ins Unglaubliche zu steigern.“
3) Simon Sparwasser, bike´n phile - website, EinTrAG am 30.9. (Paris / Erwachen: Der Traum des Autoverkehrs), 1999. „Dispositiv“: Der Begriff wurde von dem französischen Philosophen Michel Foucault in die Geisteswissenschaften eingeführt und lehnt sich an die französische Bezeichnung für eine Heeresformation an. Er bezeichnet die Gesamtheit der – gesellschaftlichen, technologischen, infrastrukturellen, etc. – Kräfte, die sich als im Hinblick auf eine bestimmte Strategie oder eine bestimmte historische Entwicklung wirkend zusammenfassen lassen.